Digitale Produkte sind ein wichtiger Teil unseres täglichen Lebens. Sie helfen uns, unsere Bedürfnisse zu erfüllen und unser Leben einfacher zu gestalten. Aber wie werden solche Produkte entworfen und entwickelt?
In diesem Artikel gebe ich einen Überblick über die Welt der Product Discovery und erkläre die wichtigsten Punkte, sodass ihr als Team einen perfekten Start für eure Produktentwicklung findet.
Was versteht man unter Product Discovery?
Die „üblichen Verdächtigen“, also Quellen für zuverlässige Definitionen aus der Welt der digitalen Produktentwicklung, beschreiben Product Discovery so:
Definition 1 von Nielsen Norman Group
A discovery is a preliminary phase in the UX-design process that involves researching the problem space, framing the problem(s) to be solved, and gathering enough evidence and initial direction on what to do next. Discoveries do not involve testing hypotheses or solutions. (Nielsen Norman Group, NNg)
Definition 2 von Jeff Patton
We use product discovery work to get evidence that the problems we’re solving really exist, that our customers want and can use our solutions, and that we can build them predictably. (Jeff Patton)
Definition 3 von Tim Herbig
Product Discovery is the evidence-informed process of reducing uncertainty as you find problems worth solving and solutions worth building. It emerges through a series of nonlinear activities, conducted as a cross-functional team. (Tim Herbig)
Defintion 4 von Marty Cagan
I prefer to think of this phase as “product discovery” more than “requirements and design.” I think this nomenclature emphasizes two all-important points:
– First, you need to discover whether there are real users out there that want this product. In other words, you need to identify your market and validate the opportunity with your customers.
– Second, you need to discover a product solution to this problem that is usable, useful, and feasible. In other words, you need to design your product and validate it with your customers and your engineering team. (Marty Cagan)
Die Gemeinsamkeiten dieser Definitionen
Alle Definitionen haben vier Aussagen gemeinsam:
- Es gibt ein Problem.
- User und Customer wünschen sich eine Lösung für dieses Problem.
- „Evidence“ wird durch Daten aus „echter“ Research gesammelt.
- Die Product Discovery sollte zu Beginn der Produktentwicklung stattfinden.
Mit Product Discovery beabsichtigen wir also Antworten auf diese eine Fragestellung zu finden:
Woran erkenne ich, bevor ich mit dem Entwickeln beginne, welches Produkt das „RICHTIGE“ ist?
Welche Herausforderungen der Produktentwicklung löst Product Discovery?
The first truth is that at least half of your ideas are just not going to work (Marty Cagan, Silicon Valley Product Group)
Häufig ist es doch so: Du und dein Team delivern ein Produktfeature nach dem anderen. Die Scrum-Sprints laufen hervorragend. Das Team performt. Die Velocity-Kurve in Atlassian ist ein Traum. Die Reviews mit dem Management werden bewundert. Kein Zweifel: Das Produkt ist ein MEGASTAR!
Doch genau jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, um einen Moment innezuhalten und die Nadel an eine empfindliche Stelle zu setzen. Mit dieser Frage:
Bist du dir hundertprozentig sicher, dass ihr das richtige Problem für die richtigen Nutzer und Kunden löst? Oder könnte es sein, dass euer Produkt auf Annahmen von Problemen und Chancen basiert, die ihr euren Ansprechpersonen, Kundenunternehmen, Anwendenden, Stakeholder:innen, eurem Markt und eurem Business „übergestülpt“ habt?
Solltest du dir nicht sicher sein, dass ihr auf dem richtigen Weg seid – keine Sorge. Du bist nicht allein: Eine Studie von CBS Insights zeigt:
„42 % of failed start-ups cite ‘no user need’ as a reason for failure.“
Das bedeutet 42 % der Produktentwicklungen scheitern, weil das Team nicht wusste, welches Problem das Produkt lösen muss, damit Unternehmen und Anwendende wirklich etwas davon haben.
Und genau an dieser schmerzvollen und empfindlichen Stelle setzt das Konzept der Product Discovery an: Product Discovery hat zum Ziel so früh wie möglich im Produktentwicklungsprozess herauszufinden, ob wir als Produkt-Team das richtige Problem für die richtigen Menschen lösen und mit der richtigen Technologie und bestmöglichen Usability am richtigen Markt anbieten.
Produktentwicklungsprozesse geben Orientierung Product Discovery zum richtigen Zeitpunkt zu machen
Moderne Prozesse der Produktentwicklung können in zwei große Phasen bzw. „Räume“ unterteilt werden:
- Phase der Discovery bzw. „Problemraum“
- Phase der Delivery bzw. „Lösungsraum“
In der Phase der Discovery bzw. im Bereich des Problemraums wird alles dafür getan, um
- die Probleme und Herausforderungen zu verstehen
- jenes Problem zu identifizieren und definieren, welches in den Folgephasen (Develop /Delivery) gelöst werden soll
Das Ergebnis des Problemraumes bzw. der Phase Discovery ist also ein konkret „definiertes“ Problem“ als Ausgangspunkt und Sprungbrett für den Lösungsraums.
Am wirkungsvollsten ist dieses Vorgehen, wenn es viele Unbekannte gibt. Sind die Herausforderungen außerdem komplex, ist die Product Discovery ein Wundermittel, um das Produkt nicht gegen die Wand zu fahren.
Wie geht Product Discovery?
Um einen Überblick über die wichtigsten Schritte der Product Discovery zu erlangen, zerlegen wir den Prozess in 6 kleinere, verdauliche Schritte:
- Problemraum definieren
- Ziel definieren
- Team zusammenstellen
- Erforschung des Problemraums mit Hilfe von User Research
- Synthesis, Verfeinerung des Problem-Statements
- Chancen und Potentiale hervorheben, Lösungsideen generieren
Schritt 1: Problemraum definieren
Der Ausgangspunkt jedes Produktes oder Services ist eine Herausforderung bzw. Problem. Ein Problem kommt meist selten allein, sondern in großer Vielfalt und Menge. Daher stellen sich diese Fragen:
- Wo liegt unser Fokus? Worauf wollen wir uns konzentrieren?
- Welchen Bereich der Problemwelt sollen wir genauer unter die Lupe nehmen?
- Um welchen Bereich der Problemwelt sollen wir einen Rahmen ziehen?
- Was ist unser Problem Frame, den wir mit unserer Discovery erforschen wollen?
Um diesen Problem Frame zu definieren, gibt es zwei Werkzeuge, die diese Definition vereinfachen:
- 5 W-Fragen (Wer, Was, Wo, Wann, Warum)
- Problem Statement
Die 5 Ws helfen euch, als Team besser zu verstehen, welche Unbekannten es gibt. Dafür beantwortet ihr diese Fragen:
- Was ist das Problem?
- Wer ist vom Problem betroffen?
- Wo tritt das Problem auf?
- Wann tritt das Problem auf?
- Warum tritt das Problem auf?
- Warum ist das Problem wichtig?
Mithilfe der Antworten findet ihr heraus, wie viel ihr schon wisst und wie viel noch unbekannt ist. Die Unbekannten sind dabei ein großartiger Ausgangspunkt den Problem Frame dort zu setzen und um mit Discovery zu starten.
Das „Problem Statement“ ist ein Werkzeug, mit dem ihr ein Problem, um das es geht, präzise beschreiben könnt. Es dient im Team und in der Organisation als Alignment-Tool, d. h. es hilft euch, ein gemeinsames Verständnis über den Problemraum herzustellen und im nächsten Schritt ein Ziel für den weiteren Prozess zu formulieren.
Schritt 2: Ziel definieren
Um genauer eingrenzen zu können, in welche Richtung du die Product Discovery betreibst, ist es essenziell, das Ziel der Discovery zu formulieren und mit dem Team zu teilen.
Dafür nutzt du die Ergebnisse aus dem „Problem Statement“ in Schritt 1. Während das Problem Statement das Problem beschreibt, das erforscht werden soll, formulierst du mit dem Ziel die Richtung der Discovery.
Ich empfehle immer eine Entscheidung als Ziel zu wählen. Hier ein paar Beispiele:
- Ziel: Entscheide mithilfe der Discovery, ob es „Chancen gibt die Beteiligung an unseren Workshops zu erhöhen.
- Ziel: Entscheide mithilfe der Discovery, was die größten Herausforderungen sind, die mit der mangelnden Beteiligung an unseren Workshop zu tun haben.
- Ziel: Entscheide mit Hilfe der Discovery, welche „Chancen“ es gibt, den Zugang zu sauberem Wasser in ländlichen Gebieten Nigerias zu verbessern.
Dies solltest du NICHT tun:
- Keine versteckten Lösungen einbauen
- Keine Technologien erwähnen
- Das Problem nicht zu eng formulieren. Stattdessen solltest du es so breit wie möglich fassen, um Raum für die Erforschung zu haben.
Schritt 3: Team zusammenstellen
Eine Product Discovery kann, was den Umfang betrifft, unterschiedlich breit aufgestellt sein. Am wirkungsvollsten ist eine Product Discovery, wenn es um komplexe Problemstellungen mit vielen Unbekannten geht. Dafür braucht die Product Discovery ein wirklich gutes Team.
Ein solches Team sollte aus multidisziplinären Rollen zusammengesetzt sein, wie z. B.:
- UX Researcher
- Facilitator
- Team Lead
- Sponsor
- Owner
- Tech Experts, Engineers
- Business Analyst
Schritt 4: Erforschung des Problemraums mit Hilfe von User Research
Nachdem ihr im Team den Problem Frame gesetzt habt, das Problem Statement und das übergeordnete Ziel der Discovery formuliert habt, ist es nun an der Zeit, in die „echte“ Welt hinauszugehen und den Problemraum zu erforschen. Das ist der Startschuss, um echte Daten aus eurem Problem Frame zu sammeln, zu sammeln und noch einmal zu sammeln.
Dafür bieten sich eine Vielzahl unterschiedlicher Methoden aus der Domäne der User Research an, wie:
- User Interviews
- Diary Studies
- Field Studies
- Stakeholder Interviews
- Kickoff Workshops
- Assumption Mapping Workshops
- Research Question Generation Workshops
- Affinity Diagramming Workshops
- Service Blueprinting Workshops
- Problem Framing Workshops
Um die Methode zu finden, die sich für dein Vorhaben am besten eignet, orientierst du dich am übergeordneten Ziel der Discovery und sorgst dafür, dass die Daten und die zu erwartenden Ergebnisse und Ziele der Erforschung in das übergeordnete Ziel einzahlen.
Spätestens hier zeigt sich, wie wichtig es war, die Ziele der Erforschung so präzise wie möglich zu formulieren und im Team abzustimmen.
Schritt 5: Synthesis, Verfeinerung des Problem Statements
Sobald das Research Team vom „Feld“ mit riesigen Rucksäcken voller Forschungsdaten zurückgekehrt ist, gilt es, alle Daten auf den Tisch zu legen und zu analysieren. In diesem fünften Schritt geht es darum, mithilfe der gesammelten Daten, neue Erkenntnisse zu gewinnen und die Unbekannten in Bekannte zu verwandeln. Auch hier helfen konkrete Methoden der Synthese und der Sinnstiftung wie etwa Affinity Diagramms, Journey Maps oder Service Blueprints.
Am Ende dieses Schritts konntest du das ursprüngliche Problem Statement mithilfe von vielen neuen Erkenntnissen verfeinern. Diese verfeinerte Problem Statement dient als Sprungbrett für die Ideengenerierung im nächsten Schritt.
Schritt 6: Chancen hervorheben, Lösungsideen generieren
Mit Schritt 6 beginnt der Übergang in den Lösungsraum. Ideen generieren, Prototypen erstellen, Lösungskonzepte entwickeln und diese frühzeitig testen, mit echten Nutzern, die in der Erforschung befragt und beobachtet wurden, sind die Schlüssel für die ersten Schritte zur erfolgreichen Delivery eurer Produkte.
Was nimmst du mit?
Product Discovery ist ein wichtiger Teil der Produktentwicklung, insbesondere, wenn es zu Beginn viele Unbekannte und komplexe Problemstellungen gibt. Zentral für den Erfolg der Product Discovery ist die User Research an den Stellen, wo Probleme auftreten und Menschen davon betroffen sind. Präzise Zielformulierungen und Problem Statements helfen dem Team zu verstehen, in welche Richtung die nächsten Schritte gehen. Mithilfe einer sorgfältig geplanten und durchgeführten Product Discovery kannst du die Chancen auf ein erfolgreiches Produkt um ein Vielfaches erhöhen.
Bleibt mir noch, dir viel Spaß zu wünschen in dieser aufregenden Phase!
Hast du noch Fragen zur Product Discovery oder möchtest du mehr wissen? Dann sprich mich gerne an oder hinterlasse einen Kommentar.
Andreas Lehner, Lead Consultant, Product Innovation & UX Design
Quellen
- NNg, https://www.nngroup.com/articles/discovery-phase/
- Jeff Patton, https://www.dropbox.com/s/1mpek4fzs2qvq5r/Discovery%20Immersion%20QR%20Cards.pdf?dl=0
- Tim Herbig, https://herbig.co/product-discovery/
- Marty Cagan, https://www.svpg.com/product-discovery/
- CBS Insights, https://www.cbinsights.com/research/report/startup-failure-reasons-top/