In diesem Artikel präsentieren wir die Erfahrungen, die wir bei der Einführung des Usability-Prozesses bei einem unserer Kunden gemacht haben. Grundlage für das Projekt war ein Usability-Gutachten, das eine komplexe Systemlandschaft mit unterschiedlichen Interaktionspattern aufzeigte.

Die größten Schwachstellen waren:

  • Für die Ausführung eines Geschäftsprozesses musste ein Anwender bis zu vier unterschiedliche Anwendungen verwenden.
  • Die Anwendungen nutzen eine Sprache, die stark durch IT-Begriffe geprägt war.
  • Die Anwender mussten unterschiedliche Ausgabeformate kennen und mit diesen umgehen können und sich außerdem in nicht offensichtlichen Verzeichnisstrukturen zurechtfinden und Dateien kopieren.

Unser Projekt bekam die Aufgabe, diese Systemlandschaft zu vereinheitlichen und benutzerfreundlich zu gestalten. Zu Projektbeginn sahen wir uns zunächst vor einer Fülle an Anwendungen mit mangelnder Softwarequalität und fehlender Usability. Wo sollten wir anfangen? Was waren die wesentlichen Punkte, die dem Endanwender das Arbeiten erleichtern würden?

Der Usability-Prozess

Das Ziel war definiert: Die Anwendungen sollen über eine hohe Usability verfügen. Um dieses Ziel zu erreichen, stellten wir den Anwender mit seinen Aufgaben, Zielen und Eigenschaften in den Mittelpunkt des Entwicklungsprozesses und führten den Usability-Prozess ein. Die kontinuierliche Kommunikation mit den Anwendern ist ein wesentlicher Baustein des Usability-Prozesses. Der Usability-Prozess befasst sich mit den Prinzipien der menschenzentrierten Gestaltung sowie mit deren Organisation und Anwendung. „Menschenzentrierte Gestaltung“ bezeichnet dabei eine Herangehensweise der Softwareentwicklung, die die Usability von Systemen erhöht, indem sie sich auf die Nutzung des Systems konzentriert.

Der Usability-Prozess lässt sich in mehrere Phasen unterteilen:

usabilityprozess

(1) Analyse des Nutzungskontexts

Der Nutzungskontext ist in ISO 9241-11 definiert als „Die Benutzer, Arbeitsaufgaben, Ausrüstung (Hardware, Software und Materialien) sowie physische und soziale Umgebung, in der das Produkt genutzt wird.“ Aus dieser Definition lassen sich die zentralen Fragen in Bezug auf den Nutzungskontext ableiten:

  • Wer sind meine Anwender?
  • Welche Ziele verfolgen sie mit der Anwendung?
  • Was sind ihre Arbeitsaufgaben?
  • Wie sind sie ausgestattet (Hardware, Software)?
  • In welcher Arbeitsumgebung arbeiten sie?

Ein Usability-Experte versucht diese Fragen durch Befragung oder durch Beobachtung der Anwender zu beantworten. Die Ergebnisse bilden den Nutzungskontext. Diesen hält der Usability-Experte anhand von Ablaufdiagrammen, Aufgabenmodellen etc. fest. Der Nutzungskontext bildet die Grundlage für die nächste Phase.

(2) Ableitung der Nutzungsanforderungen

Auf Basis des Nutzungskontexts kann der Usability-Experte die Erfordernisse des Anwenders an die Software identifizieren. Sie bilden die Grundlage für die Nutzungsanforderungen, die häufig auch als Usability Requirements bezeichnet werden. Nutzungsanforderungen beschreiben, welche konkreten Handlungen der Anwender an dem System ausführen kann.  Dabei können Nutzer nur drei Arten von „Aktionen“ an einem interaktiven System ausführen:

  • Etwas eingeben
  • Etwas auswählen
  • Etwas erkennen

(3) Benutzerfreundliche Gestaltung

Auf Basis der Nutzungsanforderungen entwirft der Usability-Experte typische Szenarien, Simulationen oder Prototypen. Dabei orientiert er sich an den sieben Dialoggrundsätzen für interaktive Systeme:

  • Aufgabenangemessenheit
  • Selbstbeschreibungsfähigkeit
  • Erwartungskonformität
  • Fehlertoleranz
  • Steuerbarkeit
  • Individualisierbarkeit
  • Lernförderlichkeit

Die erstellten Ergebnisse stimmt der Usability-Experte im weiteren Prozess mit den Anwendern und den Entwicklern regelmäßig ab und begleitet somit die Entwicklung des Systems.

(4) Usability-Analysen

Eine wesentliche Aufgabe des Usability-Experten ist die Abstimmung der Gestaltungskonzepte mit den Anwendern. Die Rückmeldung der Anwender lassen Rückschlüsse auf den Grad der Umsetzung der Nutzungsanforderungen zu. Zusätzlich kann der Usability-Experte neue Informationen über die Erfordernisse der Anwender sammeln.

Unsere Erfahrungen

Der Usability-Prozess bietet uns den organisatorischen Rahmen, um die Anwender in den Softwareentwicklungsprozess einzubinden. Die folgenden Aktivitäten haben wir durchgeführt und in diesem Rahmen wichtige Erfahrungen gesammelt.

Analyse des Nutzungskontexts und Ableitung der Nutzungsanforderungen

Um den Nutzungskontext der Anwender besser zu verstehen, haben wir Kontextinterviews mit unterschiedlichen Benutzergruppen durchgeführt. In den Kontextinterviews wurden Anwender anhand von 16-24 Leitfragen zu ihrer täglichen Arbeit mit den Systemen und zu möglichen Verbesserungsvorschlägen befragt. Aus den Antworten wurden anschließend die Nutzungsanforderungen formuliert. Diese haben wir zusammen mit weiteren Systemanforderungen priorisiert.

kontextinterviews

Die folgenden Punkte haben wir als positiv mitgenommen:

  • Wir bekamen einen Einblick in die tägliche Arbeitsweise der Anwender mit all ihren täglichen Herausforderungen.
  • Zu Projektbeginn gab es kaum konkrete Anforderungen. Die Kontextinterviews halfen uns, Anforderungen aus Anwendersicht zu spezifizieren und zu priorisieren.

Die folgenden Punkte sind uns negativ aufgefallen:

  • Kontextinterviews sind sehr zeitaufwändig. Ein Interview dauert ca. 2 Stunden, exklusive Vor- und Nachbereitung.
  • Der Informationsgewinn ist bei den ersten Kontextinterviews sehr hoch, nimmt allerdings mit zunehmender Anzahl an Interviews ab, da viele Anwender vor denselben Herausforderungen stehen. Dennoch ist es notwendig, genügend Kontextinterviews durchzuführen, um häufige Probleme zu erkennen und die resultierenden Nutzungsanforderungen valide zu priorisieren.

Im Allgemeinen konnten wir bei den Kontextinterviews wichtige Fakten über unsere Benutzer lernen. Aufgrund der zu begrenzten Zeit haben wir im weiteren Projektverlauf jedoch kaum darauf zurückgegriffen.

Benutzerfreundliche Gestaltung

Basierend auf den Nutzungsanforderungen haben wir die Benutzeroberfläche mit einem Modellierungstool gestaltet. Diese sogenannten UI Mockups sind im Wesentlichen nur Zeichnungen und haben damit nicht die Wirkung einer richtigen Software. Sie verhelfen zu frühen Feedbacks und bilden eine Diskussionsgrundlage. Nach der Implementierung der Software werden aber erneut Ü„nderungswünsche geweckt, die ein Mockup durch den Technologiebruch im Vorfeld nicht auffangen kann. Wichtiges Take-away: Je früher Ü„nderungen bekannt werden, umso billiger ist deren Umsetzung.

Unsere Erfahrungen

  • Das einfache Erstellen und Verteilen ermöglichte uns ein schnelles Feedback durch die Anwender. Zusätzlich vereinfachten die Mockups die Kommunikation der Anforderungen von den Anwendern zu den Entwicklern.
  • Die visuelle Darstellung ermöglichte uns, die geplante Umsetzung auch für Nicht-Techniker erfassbar zu machen. Bei der Diskussion mit den Anwendern stellten wir fest, dass die Vorstellungskraft dazu, wie das System später aussehen wird, sehr divergent war.
  • Für die Erstellung der Mockups werden kaum Entwickler-Ressourcen benötigt. Die Erstellung kann somit parallel zur Entwicklung erfolgen.

Aufgrund unserer überwiegend positiven Erfahrung werden wir auch weiterhin intensiv mit Mockups arbeiten.

Usability-Analysen

Zur Prüfung der Gestaltungskonzepte organisierten wir Fokusgruppen. Fokusgruppen sind Diskussionsgruppen mit ca. 5-8 Anwendern zu einem speziellen Thema. Sie begleiten den Entwicklungsprozess, um zeitnahe Feedback zu erhalten. In den ersten Fokusgruppen haben wir die Mockups diskutiert. Im weiteren Verlauf konnten wir Details auch direkt an der bereits vorhandenen Anwendung abstimmen.

fokusgruppen

Unsere Erfahrungen mit den Fokusgruppen

  • Die Diskussionen bieten ein konsolidiertes Feedback. Einsichten wie „Was, bei dir ist das soundso? Bei mir ist das ganz anders „¦“, kommen immer wieder vor und sind ausgesprochen wertvoll.
  • Eine Herausforderung bei der Durchführung ist, die Diskussion sinnvoll zu steuern. Leicht läuft man Gefahr, dass gewünschte Anforderungen überhand nehmen oder die Diskussion abschweift. Um den Fokus nicht zu verlieren, braucht es einen aufmerksamen Moderator.
  • Die Einbindung der Anwender in den Entwicklungsprozess schafft zusätzlich Akzeptanz. Insbesondere bei der Erstellung von Individualsoftware ist es deshalb wichtig, die Anwender mit ins Boot zu holen.

Die Fokusgruppen wurden von allen sehr geschätzt, deshalb haben wir sie regelmäßig durchgeführt.

Zusätzlich zu den Fokusgruppen haben wir auch Usability-Tests durchgeführt. Dabei bekamen die Anwender eine Aufgabe, die sie mit Hilfe der Anwendung lösen mussten. Dabei beobachtet der Usability-Experte den Anwender und identifiziert Verbesserungspotenzial, um z. B. die Navigation zu vereinfachen.

usability-tests

Unsere Erfahrungen mit Usability-Tests:

  • Die Usability-Tests mit Anwendern ermöglichten uns, zu komplexe Masken bzw. Maskenflüsse frühzeitig zu identifizieren zu vereinfachen. Wir konnten unnötige Klicks entfernen und wichtige Informationen präsenter darstellen.
  • Bei den Usability-Tests ist es unbedingt notwendig, sich im Vorfeld genau zu überlegen, welche Aufgabenstellungen man dem Anwender stellt. Des Weiteren haben wir festgestellt, dass es einen großen Unterschied macht, ob der Anwender die Anwendung bereits kennt oder noch nicht.
  • Die Usability-Tests ermöglichten es uns, die Anwendung an die Fachsprache der Anwender anzupassen.

Die Usability-Tests haben uns sehr geholfen, die Anwendung zu tunen. Sie sind sowohl in der Vorbereitung als auch in der Durchführung zeitintensiv. Unsere Erkenntnisse durch die Usability-Tests waren jedoch so wertvoll, dass wir den damit verbundenen Aufwand in Kauf nehmen.

Fazit

Die Einführung und Etablierung des Usability-Prozesses hat uns geholfen, die Anwender in den Mittelpunkt der Softwareentwicklung zu stellen und somit auf ihre tatsächlichen Anforderungen einzugehen.

Weiterführende Literatur:

DAkkS-Prüfverfahren für den Usability-Engineering-Prozess auf der Grundlage von DIN EN ISO 13407

Handbuch Usability nach DIN EN ISO 9241

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Alle Beiträge von monikaschubert

Dr. Monika Schubert arbeitet am unscharfen Beginn der Produktentwicklung bei OPITZ CONSULTING. Sie hilft Unternehmen ihre Produkte so zu definieren und anzupassen, dass die Anwender sie lieben und gerne benutzen. Neben ihrer Projekttätigkeit treibt sie als Leiterin des Kompetenzteam Anforderungs- und Testmanagement aktiv die Recherche, die Weiterentwicklung und den Wissenstransfer neuer Konzepte voran.

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